Industrie 4.0: Testlauf im virtuellen Raum

Industrieunternehmen simulieren zunehmend ganze Fertigungslinien. Das soll Fehlschläge bei Investitionen in die vernetzte Produktion verhindern und die Kosten drücken.

Die Arbeit vieler Tage – vom Winde verweht. So konnte es dem Verpackungsspezialisten Optima Pharma immer mal wieder ergehen. Das Unternehmen aus Schwäbisch Hall stellt unter anderem Abfüllanlagen für Medikamente her. Im Reinraum müssen neue Maschinen präzise ausgerichtet und eingestellt werden.  Dabei gilt es, Luftströme zu berücksichtigen. Die sind nötig, um ein Vakuum zu erzeugen, wo verpackt wird. Ein aufwendiges und langwieriges Unterfangen.

Einfacher geht es mit einer Simulationssoftware, die ein junger Kollege entwickelt hat. Jetzt reichen die geometrischen Daten des Raumes und der Standort der Luftzufuhr, um die größten Hürden bereits virtuell zu erkennen und auszuräumen. „So konnte Optima Pharma die Inbetriebnahme von Anlagen drastisch verkürzen“, erläutert Andreas Wierse, Geschäftsführer des mit öffentlichen Geldern geförderten Beratungsunternehmens Sicos BW, das den Verpackungsspezialisten bei der Umsetzung unterstützt hat.

Ein großer Schritt für den international tätigen Mittelständler – und doch nur eine erste Stufe der Virtualisierung in der Produktion. Durch günstigere Rechen- und Speicherkapazitäten, die oft auch aus der Cloud eingekauft werden, lässt sich die Fertigung mittlerweile auch komplett in der virtuellen Welt abbilden. „Wenn man aus der lokalen in eine vernetzte Simulation geht, entsteht ein deutlicher Mehrwert“, sagt Wierse.

Gerade Mittelständler könnten davon beim Einstieg in die vernetzte Produktion profitieren, weil Risiken ihrer Investitionen sinken. Zusätzlich überzeugen wollen die Anbieter mit Kostenvorteilen. So präsentiert der Technologiekonzern ABB zur Automatisierungsmesse SPS IPC Drives, die morgen in Nürnberg beginnt, eine Softwarelösung für die virtuelle Inbetriebnahme von Speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS), also dem Hirn einer Maschine. Tests in der virtuellen Umgebung verkürzen die Arbeit an den realen Anlagen, die dann kürzer stillstehen. ABB weist eine Kostenersparnis von 20 Prozent bei der Inbetriebnahme aus.

Jenseits möglicher Kostenvorteile sehen Experten zudem die Chance, besser auf die wechselnden Wünsche von Kunden einzugehen. Wenn auch noch die Betriebsdaten aller Maschinen in die Simulation eingespeist werden, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten für die Produktionsplanung. So lässt sich berechnen, welche Fertigungslinie einen Auftrag am effizientesten bewältigen würde. Oder wann sich das Umrüsten von Maschinen lohnt, wenn Kunden individuelle Teile ordern.

„Es ist möglich, schon in der Entwicklung Entscheidungen zu validieren, ohne dafür echte Maschinen oder Anlagen einrichten zu müssen“, sagt Martin Schubert, Spezialist für Digital Manufacturing beim Beratungsunternehmen Accenture. Die nötigen Daten produzieren fast alle Maschinen und selbst Produkte im Überfluss.  Was in der Regel fehlt, ist die Möglichkeit, diese in einem einheitlichen Modell zu verknüpfen. „In den Fabriken ist die Vielfalt unterschiedlicher IT-Systeme aktuell sehr groß“, sagt Schubert.

Abhilfe schaffen will der Tübinger Werkzeughersteller Walter AG. Seit einem Jahr simuliert das Unternehmen Fertigungsprozesse, in denen seine Präzisionswerkzeuge eingesetzt werden. So will man mögliche Probleme erkennen, bevor sie überhaupt auftreten, und gleichzeitig Ideen für eigene digitale Produkte finden. „Die Virtualisierung des Planungsprozesses schreitet schnell voran“, sagt Florian Böpple, Leiter Digital Manufacturing bei Walter.

Doch schon der Einstieg ist komplex. Denn Produktdaten müssen im richtigen Format bereitstehen, damit sie genutzt werden können. Für Werkzeughersteller spielt die ISO-Norm 13399 eine große Rolle, die die Form und Funktion von computerlesbaren Datensätzen definiert. Doch einige größere Kunden setzten auf andere oder eigene Standards, sagt Böpple. „Wir müssen schauen, dass wir dem Kunden das bieten können, was er benötigt.“

Langsam arbeiten sich viele Firmen vor. Den Anfang bildet oft ein „digitaler Zwilling“, also die virtuelle Kopie eines Produkts. Sollen alle Maschinen und Anlagen in der Produktion simuliert werden, steigt der Abstimmungsbedarf enorm – auch zwischen einzelnen Abteilungen. „Viele Unternehmen nutzen bisher noch keine festen, IT-gestützten Feedback-Schleifen zwischen Produktion, Engineering und Entwicklung. Das reduziert das Potenzial der digitalen Fabrik“, sagt Produktionsexperte Schubert.

Abseits des Produktionsalltags will Marcus Kurth diese Hürde überwinden. Der Professor für Regelungs- und Systemtechnik an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung (HTWG) in Konstanz errichtet gemeinsam mit Kollegen aus Österreich und der Schweiz die Modellfabrik Bodensee. Für Testkunden werden dort individuell konfigurierte Modellautos gebaut. Die Komponenten fertigen die Kollegen jenseits der deutschen Grenze maßgeschneidert und schicken sie dann nach Konstanz.

Virtuelle Technik soll helfen, den traditionellen Fertigungsprozess aufzubrechen, bei dem Standardprodukte in stetem Takt abgearbeitet werden. „Wir wollen die komplette Verbindung von virtueller und realer Welt in der Fertigung erreichen“, sagt Kurth. Dafür werden alle Produktteile, Maschinen und Anlagen mit sogenannten cyberphysischen Systemen ausgestattet, die Datensignale senden und empfangen können.

So lassen sich sowohl die Produktion als auch Fortschritte jedes einzelnen Modellautos genau überwachen – und Lieferengpässe, Auftragsspitzen oder Sonderwünsche simulieren. Das große Ziel der Wissenschaftler ist die komplette Flexibilität der Fertigungsstraße: „Wenn etwas virtuell umgeplant wird, dann setzen sich die Module in der Fertigung ebenfalls automatisch um“, sagt Kurth.

Erschienen im Handelsblatt am 27. November 2017.

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