Digitaler Zwilling: Spurensuche im virtuellen Raum

Der Verschleiß gab einem amerikanischen Zugbetreiber Rätsel auf: Immer wieder zeigten einzelne Radreifen von Dieselloks ungewöhnlich früh Ermüdungserscheinungen. Um der Ursache auf die Spur zu kommen, tauchten die Ingenieure tief in die Datensammlung ein. Am Ende der Detektivarbeit stand ein detailliertes Ergebnis: Alle defekten Reifen waren in einem bestimmten Reparaturwerk über eine bestimmte Weiche gerollt – die sorgte viele Kilometer später für die Schäden.

Möglich war die Recherche nur, weil den Technikern zu jedem Radreifen ein umfangreicher Datensatz zur Verfügung stand – mit Informationen aus Konstruktion, Produktion und dem tatsächlichen Einsatz auf Amerikas Schienen.  „Mit traditionellen Datensätzen hätten die Betreiber das nie herausgefunden“, sagt Carlos Härtel, Forschungsdirektor des Industriekonzerns GE in Europa.

Die virtuelle Abbildung eines Produktionsteils – von dessen Bau bis zur Verschrottung – wird in der Industrie als „digitaler Zwilling“ bezeichnet. Und mit der zunehmenden Vernetzung von Maschinen und Geräten gewinnt der Begriff aktuell an Bedeutung. Die Marktforscher von Gartner haben einen der Top-Technologie-Trends ausgemacht. In drei bis fünf Jahren, so schätzen die Analysten, werde es mehrere Hundert Millionen physischer Dinge geben, die mit allen Eigenschaften im virtuellen Raum abgebildet sind.

Konstruktionsingenieure blicken teils verwundert auf den Hype. „Das Modell gab es schon immer, es wurde nur nicht so genannt“, sagt Martin Eigner, Professor für Virtuelle Produktentwicklung an der Technischen Universität Kaiserslautern.  Automobilbauer etwa rüsten die meisten Fahrzeuge nach Kundenwunsch aus – diese individuellen Informationen wandern bereits entlang der Produktionslinie mit.  Mit der Digitalisierung nutzen jetzt mehr Branchen die Möglichkeit, umfangreiche Datensammlungen zu einzelnen Werkstücken anzulegen.

Der Datenaustausch funktioniert dabei in beide Richtungen: Differenzierte Produkte – bis hin zur Losgröße 1 – rücken näher, wenn Kundenwünsche im virtuellen Modell leicht vermerkt werden können. „Wenn sie die Komplexität und relevanten Informationen für die Produktion bereits im digitalen Abbild haben, können sie die leichter an die Produktionsmaschinen weitergeben“, sagt Andreas Hein, Leiter Digital Manufacturing bei der Beratung Capgemini.

Andersherum werden spätere Modifizierungen oder Daten in den digitalen Zwilling übertragen. Möglich ist das heute auch aus dem aktuellen Betrieb, indem Daten über Sensoren und Mobilfunk an das virtuelle Abbild gesendet werden. „Damit können sie mit den Messdaten aus dem Feld am Modell arbeiten“, sagt Härtel.

Fehlerhafte Teile können so ohne einen Blick auf die Seriennummer zurückverfolgt werden. Zudem lässt sich aus Live-Betriebsdaten das Ende der Lebensdauer vorhersehen. „Diese Art der Optimierung wird nur mit erhöhter Transparenz möglich“, sagt Härtel.

Die Datenflut, so die Hoffnung vieler Hersteller, verheißt großes Potenzial für neue Geschäftsmodelle. „Das wirklich Neue ist, dass Unternehmen versuchen, heute über die Produktion hinaus noch Wertschöpfung zu generieren“, sagt Eigner.  Als ein Paradebeispiel gelten die Elektroautos von Tesla, die aus der Ferne Softwareupdates mit zusätzlichen Funktionen empfangen können. Vor einem breiten Praxiseinsatz seien auch noch juristische Fragen offen, sagt Eigner. Muss etwa eine Maschine, die aus dem digitalen Zwilling mit neuen Funktionen versorgt wurde, ganz neu zugelassen werden?

Auch andere Probleme sorgen dafür, dass der digitale Zwilling neugierig, aber vorsichtig betrachtet wird. Die Skepsis ist auch bei IT-Dienstleistern und Industrieunternehmen größer als bei anderen Themen rund um die vernetzte Produktion.

Das liegt zum einen daran, dass für einen kompletten digitalen Zwilling Daten von Unternehmen zu Unternehmen weitergegeben werden müssten. Weil darin viel internes Wissen steckt, sträuben sich Zulieferer dagegen. Unklar sind auch Standards bei der Datenübertragung. Aktuell wird der digitale Zwilling aus etlichen Quellen versorgt: CAD-Daten aus der Konstruktion, Informationen aus Sensoren und händisch eingetragenen Bemerkungen aus Inspektionen.

Noch ist das Rennen offen, wer die IT-Infrastruktur für das virtuelle Abbild stellt: Anbieter von sogenannter „Product Lifecycle Management“-Software (PLM) kommen oft aus der Konstruktion und wollen sich in Richtung Betrieb vorarbeiten.  Umgekehrt ergänzen einige Anbieter der zentralen ERP-Software zur Betriebssteuerung ihre Programme um Module für die Produktion. „Wir werden da sicher noch Überraschungen erleben“, sagt Berater Hein. „Das ist kein Produkt, das man aus der Schublade zieht.“

Ungeklärt ist auch eine weitere Frage: Welche Daten sind wirklich nötig, um alle Fragen zu beantworten. Beim US-Zugbetreiber zahlte es sich aus, dass die Lebensgeschichte der Reifen bis zur überfahrenen Weiche zurückverfolgt werden konnte. In Pilotprojekten in anderen Branchen stand dagegen eine Lektion früh fest: Der eineiige digitale Zwilling ist möglich – er rechnet sich oft aber gar nicht.

Die Kosten, um Informationen aus Werkteilen zu gewinnen, standen in keinem Verhältnis zum möglichen Erkenntnisgewinn. „Manchmal ist es zu aufwendig, alle beeinflussenden Daten sauber auszulesen“, so Hein. Auf den Einzelfall kommt es an. Bei einem Kunden stellte Heins Team fest: Das Anreichern des digitalen Zwillings bei Schweißrobotern brachte wenig. Doch einige Produktionsstraßen weiter ließ sich derselbe Algorithmus auf Klebetechnik anwenden und rechnete sich schnell.

Erschienen im Handelsblatt am 24. April 2017.

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